Die deutschen Tagzettel des Kardinals entstanden 1637 zunächst aus der Notwendigkeit,
Familie und Freunde von den Ereignissen der Rom-Reise des Jahres zu unterrichten.
Die einzelnen Korrespondenzen wurden dabei nicht aufgegeben – Harrach schrieb
weiter individuelle Briefe etwa an seine Brüder Leonhard Karl und Franz Albrecht,
aber mit dem Tagzettel wurde die Information über seine Person effektiviert,
weil er von vornherein für mehrfache Lektüre und Weitergabe gedacht war, und
differenziert, weil die Tagzettel viel mehr an persönlichen Details enthielten
als die gewöhnlichen Briefe. Man kann davon ausgehen, dass bei der Ausprägung
dieses individuellen Informationsmediums mehrere Textsorten Pate standen,
die sich wechselseitig modifizierten: Brief, Tagebuch und Zeitung.
Dabei verfügte Harrach hinsichtlich von Brief und Tagebuch über langjährige
eigene Erfahrungen, wie die italienischen Texte und die überlieferten Bruchstücke
seiner umfangreichen Korrespondenz belegen. Klar dürfte auch sein, dass er
als fast Vierzigjähriger in einer Zeit expandierenden Zeitungswesens sowohl
gedruckte wie geschriebene Zeitungen respektive Avvisi kannte und in großem
Stil konsumierte. Über den Umfang der Zeitungslektüre einer historischen Person
sind wir auch in seinem Fall kaum unterrichtet, erst Erwähnungen in den Tagzetteln
selbst belegen eindeutig, dass er Zeitungen bezog und las.
Betrachtet man nun die Harrachschen Tagzettel in ihrer ausgereiften Form der
vierziger bis sechziger Jahre vor dem Hintergrund der bis ins 15. Jahrhundert
zurückreichenden Tradition geschriebener Zeitungen, fallen schnell verschiedene
Parallelen ins Auge. Zum ersten natürlich die allmähliche Herausbildung des
Tagzettels aus dem Brief, die Entwicklung hin zur endgültigen Form der Beilage
zum Brief auf einem gesonderten Blatt. Dies ist umso auffälliger, als bereits
im 16. Jahrhundert für diese Nachrichtenbeilagen die Bezeichnung „pagellae“
erscheint, und als im Italienischen neben der geläufigen Bezeichnung „avvisi“
für die geschriebenen Zeitungen auch deren Benennung als „foglietti“ nachweisbar
ist. Zumindest dieser formalen Parallelen war sich Ernst Adalbert von Harrach
sicher bewusst, hatte sie vermutlich sogar gezielt gewählt – er selbst bezeichnete
seine Tagzettel wiederholt als Zeitungen bzw. „Blättl“, ein Wort, dass er
auch für gedruckte und geschriebene Zeitungen verwendete.
Zum zweiten sind aber auch in inhaltlicher Hinsicht deutliche Parallelen erkennbar:
Geschriebene Zeitungen wie Tagzettel erschienen periodisch – die Tagzettel
wurden im Allgemeinen wöchentlich der Korrespondenz beigelegt und orientierten
sich damit wie die geschriebene Zeitung am Rhythmus der Postrouten. Sie wiesen
eine gewisse Aktualität auf, die in Bezug auf die Mitteilungen zur Person
signifikant war, aber auch die politischen und militärischen Meldungen betraf,
die in den vierziger und fünfziger Jahren einen großen Raum in den Tagzetteln
einnahmen. Harrach übermittelte hier Neuigkeiten umgehend weiter, die er selbst
per Post oder Zeitung erhielt. Und auch das Merkmal der Universalität im Sinne
der thematischen Vielfalt kann man sowohl geschriebenen Zeitungen wie den
Harrachschen Tagzetteln zuordnen. In beiden Fällen nahmen in einem breiten
Nachrichtenfeld Meldungen zu politischen und militärischen Ereignissen einen
großen Raum ein, auch wenn die Tagzettel insgesamt von Informationen zu Person
und sozialem Umfeld dominiert waren. Das Merkmal der Publizität, das heißt
der allgemeinen Zugänglichkeit, fehlte dagegen sowohl geschrieben Zeitungen
wie den Tagzetteln.
Zum dritten ist auf eine sprachliche Gemeinsamkeit zu verweisen: Wie in den
frühen Zeitungen (geschriebenen wie gedruckten) war der Kardinal in seinen
Tagzetteln bei Meldungen mit Nachrichtencharakter um Quellenkennzeichnung
bemüht, etwa indem er auf Zeitungen und Briefe verwies, und immer wieder charakteristische
Formulierungen benutzte wie „Man sagt …“, „Man spargirt …“ oder „Von NN. schreibt
man …“. Teilweise fügte er auch Bemerkungen zur Glaubwürdigkeit einzelner
Meldungen an oder betonte, dass eine Bestätigung derselben noch ausstehe.
Vor allem hinsichtlich der Berichterstattung über militärische Ereignisse
ist zudem ein Bemühen um kontinuierliche „Berichterstattung“ in den Tagzetteln
erkennbar.
Ernst Adalbert von Harrach tritt uns also bei der Produktion seiner Tagzettel
als Gazettier oder „Novellant“ entgegen, der selbst Erlebtes und Gesehenes
mit Informationen zusammenfügte, die er seinerseits aus Zeitungen, gedruckten
Relationen, Berichten über Feste und Friedensverträge usw. entnahm. Sein umfangreiches
Korrespondenznetzwerk versetzte ihn zudem in die Lage, regelmäßig nicht nur
auf kommerziell produzierte und vermittelte Nachrichten zuzugreifen, sondern
diese durch direkte eigene Kanäle zu ergänzen und zu berichtigen (Übersicht
1). Ernst Adalbert von Harrach produzierte also seine Tagzettel als Konglomerat
aus Mitteilungen zum eigenen Tagesablauf, aus selbst Gesehenem, Nachrichten
aus dem sozialen Umfeld und Mitteilungen zum Teil weit entfernter Korrespondenten.
Differenzen zwischen dem italienisch geführten Diarium Harrachs und den deutschen
Tagzetteln erklären sich nicht zuletzt aus der Funktion der Tagzettel als
Kommunikationsmittel innerhalb der „Freundschaft“ des Kardinals, eines Kreises
von Verwandten, Bekannten und vertrauten Bediensteten. Für die Erschließung
dieses Personenkreises stehen als Quelle unter anderem die Korrespondenzregister
zur Verfügung (Übersicht 1), die Ernst Adalbert
von Harrach eigenhändig führte. Sie sind vor allem für die fünfziger und sechziger
Jahre fast vollständig überliefert und stellen jeweils Listen, zum Teil mit
knappen Inhaltsangaben, der eingehenden und ausgehenden Briefe dar, wobei
meist vermerkt ist, ob dem Brief „foglietti“ beilagen oder beigelegt wurden.
Nach diesen Registern stellt sich Harrachs Tagzettelnetz folgendermaßen dar:
Für das Jahr 1637 sind bislang drei Empfänger von Tagzetteln bekannt – seine
Mutter Maria Elisabeth von Harrach, die ihren Tagzettel an alle anderen Verwandten
in Wien bzw. Bruck an der Leitha weiterreichte, sowie seine Brüder Otto Friedrich
und Franz Albrecht, von denen der erste in kaiserlichen Kriegsdiensten war
und die Tagzettel alle zwei Wochen bekam. Auch Harrachs römischer Agent Giovanni
Battista Barsotti erhielt deutsche Tagzettel. Im Jahr 1642 gab es schon mindestens
sieben Empfänger von Tagzetteln (Übersicht 3),
wobei die Texte weiterhin auch von einem Adressaten zu anderen weitergereicht
wurden. Für die fünfziger und sechziger Jahre zeigt Übersicht
4 die Namen der Empfänger von Tagzetteln des Kardinals.
Aus dieser Liste lassen sich der Familie des Kardinals zuordnen: Maria Elisabeth
von Harrach, seine Mutter, seine Schwestern Isabella Katharina von Waldstein
und Maria Maximiliana von Scherffenberg sowie sein Bruder Franz Albrecht von
Harrach. Außerdem folgende Nichten und Neffen: Isabella Maria von Götzen und
ihr Gemahl Sigmund Friedrich, Leonhard Ulrich von Harrach, Maria Elisabeth
von Kaunitz und ihr Mann Rudolf, Ferdinand Bonaventura von Harrach und seine
Frau Johanna Theresia. Als langjährige nahe Bekannte der Familie bzw. Harrachs
selbst kamen Christina Regina Jörger, Susanna Felicitas Löbl, Sabina Isabella
von Kollonitsch und ihre Schwester Susanna Eleonora Khevenhüller und später
deren Tochter Maria Franziska, vereh. Rantzau in den Adressatenkreis; mit
Philipp Friedrich Breuner, dem Wiener Bischof, war Harrach durch gemeinsame
Ausbildung und Verwandtschaft verbunden. Langjährige Vertraute wie der bereits
erwähnte Jiří Miličovský, der Kapuzinerpater Basilius von Aire, Harrachs Kanzler
Francesco Visintainer, der langjährige Hofmeister und Suffragan Giuseppe Corti
und die beiden Agenten Barsotti und Orsucci in Rom gehörten ebenfalls zu den
Beziehern der Tagzettel. Bei den restlichen Adressaten und Adressatinnen handelt
es sich um enge, mehr oder weniger langjährige Bekannte Harrachs, die vor
allem aus seinem böhmischen Umfeld stammten.
Insgesamt steht damit ein Adressatenkreis von etwa 30 Personen fest, die die
Tagzettel des Kardinals teilweise über Jahrzehnte erhielten. Die Anzahl der
gleichzeitig bedachten Leser der Harrachschen „Zeitung“ lag zwischen ca. fünf
Personen des engsten familiären Umfeldes im Jahr 1637 und mindestens 15 im
Jahr 1660, als die Tagzettel ihre größte „Auflage“ erreichten. Durch den Tod
von Familienmitgliedern und Bekannten schrumpfte danach die Zahl der Adressaten
und Adressatinnen wieder, aber es kamen bis in Harrachs letztes Lebensjahr
auch neue Personen hinzu. Dabei ist ganz klar, dass die namentlich bekannten
Empfänger und Empfängerinnen der Tagzettel nicht deren gesamte Leserschaft
darstellten – auf die Gewohnheit der Weitergabe von Tagzetteln innerhalb eines
bestimmten Personenkreises ist schon verwiesen worden. Wie groß die Anzahl
der Zweit- und Drittleser der Tagzettel wirklich war, lässt sich heute nicht
mehr feststellen; sicher ist, dass sie sich im Lauf der Jahre eher erweitert
haben dürfte. Außerdem ist bekannt, dass Harrachs Tagzettel auch in fremde
Informationssysteme einbezogen wurden.
Die in deutscher Sprache geschriebenen Tagzettel Ernst Adalberts von Harrach
stellen also ein Selbstzeugnis dar, das eindeutig in einer kommunikativen
Absicht entstand, die über die Information folgender Generationen deutlich
hinausging. Der Kardinal entwickelte mit den Tagzetteln ein individuelles
Zeitungswesen, das persönliche, politische, kulturelle etc. Informationen
und Stellungnahmen vereinte. Dieses über Jahrzehnte bestehende Informationssystem
war offenbar kein Einzelfall, aber seine umfassende Erhaltung stellt eine
Ausnahme dar.
Absender |
Ort |
Charakter |
Cesare Vezzi |
Wien bzw. Hof |
gedruckte Zeitungen |
Päpstlicher Nuntius |
Wien bzw. Hof |
handschriftliche Tagzettel |
Philipp Friedrich und Ferdinand Breuner |
Wien |
verschiedene Zeitungen und Fer andere Texte
|
Maximiliana von Scherffenberg |
Wien bzw. Hof |
Texte über Feste u.ä. |
Franz Albrecht von Harrach |
Wien |
Texte über Feste u.ä. |
Adrian von Enckefurt |
Wien |
verschiedene Zeitungen und andere Texte
|
Giovanni Battista Barsotti |
Rom |
handschriftliche Zeitungen und andere Texte
|
Abt Boffi |
Rom |
handschriftliche Zeitungen und andere Texte
|
Basilius von Aire |
Prag |
verschiedene Zeitungen und andere Texte
|
Juan Caramuel y Lobkowitz |
Prag |
verschiedene Zeitungen und andere Texte
|
Melchiore Gorino |
Mailand |
Zeitungen und französische Tagzettel |
Giovanni Battista Laghi |
Bologna |
Zeitungen |
„gazettanti“ |
Venedig |
Zeitungen |
Ferdinand Maximilian von Baden |
Paris |
französische Zeitungen |
Sigmund Friedrich von Götz |
Polen |
unregelmäßig Zeitungen |
Allegretto Allegretti |
Madrid |
unregelmäßig Zeitungen |
Erzbischof von Smyrna |
Istanbul |
unregelmäßig Zeitungen |
Übersicht 3: Empfänger von Tagzetteln 1642
Maria Elisabeth von Harrach, geb. Schrattenbach (den auch Maximiliana von
Scherffenberg, geb. Harrach, erhielt)
Franz Albrecht von Harrach
Leonard Karl von Harrach
Susanna Eleonora von Khevenhüller, geb. Kollonitsch
Christina Regina von Jörger
Anna Susanna Slavata, geb. Rappach (wenn Harrach nicht in Prag war)
Giovanni Battista Barsotti
Name |
Aufenthaltsort |
Jahre |
Maria Elisabeth von Harrach, geb. Schrattenbach
|
Wien bzw. Rohrau |
1651-1652 |
Isabella Katharina von Waldstein, geb. Harrach |
Wien |
1653 |
Maria Maximiliana von Scherffenberg, geb.
Harrach |
Wien bzw. kaiserl. Hof |
1651-1660 |
Franz Albrecht von Harrach |
Wien bzw. kaiserl. Hof |
1651-1666 |
Christina Regina Jörger |
Sankt Marein |
1651-1661 |
Sigmund Friedrich von Götz |
Bor (Haid), Armee |
1651-1661 |
Isabella Maria von Götzen, geb. Trčka |
Bor (Haid) |
1662 |
Jiří Miličovský z Braunberka |
Červená Řečice (Retschitz) |
1651-1661 |
Basilius von Aire |
Prag |
1651-1653 |
Francesco Tommaso Visintainer |
Prag |
1651-1653 |
Giovanni Battista Barsotti |
Rom |
1651-1653 |
Susanna Felicitas Löbl |
Wien? |
1653 |
Walter Leslie |
Varaždin bzw. Wien |
1653-1667 |
Leonhard Ulrich von Harrach |
Wien bzw. Bruck a.d.L. |
1656-1667 |
Maria Elisabeth von Kaunitz, geb. Waldstein |
Zahrádky (Neuschloss) |
1656-1662 |
Sabina Isabella von Kollonitsch |
Kirchberg a. W. |
1656-1667 |
Susanna Eleonora von Khevenhüller, geb. Kollonitsch |
Kirchberg a. W. |
1656-1665 |
Giuseppe Corti |
Prag |
1656-1657 |
Michele Orsucci |
Rom |
1656-1661 |
Giovanni Carlo de’ Medici |
Florenz |
1656-1661 |
Adam Matthias von Trauttmansdorff |
Horšovský Týn (Theinitz) |
1657 |
Ferdinand Bonaventura von Harrach |
Wien bzw. kaiserl. Hof |
1659-1667 |
Rudolf von Kaunitz |
Zahrádky (Neuschloss) |
1659 |
Maria Franziska von Rantzau, geb. Khevenhüller |
Kirchberg a. W. |
1659-1667 |
Ferdinand Maximilian von Baden |
Paris |
1659-1667 |
Philipp Friedrich Breuner |
Wien |
1659 |
Leopold Wilhelm von Baden-Baden |
Prag, Baden, Armee |
1660 |
Susanna Polyxena von Martinitz, geb. Dietrichstein
|
Prag |
1660-1665 |
Scipione Gonzaga di Bozzolo e Sabbioneta |
Mantua |
1660-1662 |
Maria Margaretha Schlick, geb. Ungnad |
Prag |
1661 |
Eva Christina von Kuefstein |
Greillenstein |
1662 |
Maria Katharina von Martinitz |
Prag |
1662 |
Maria Elisabeth von Götzen, geb. Hodic |
Kłodzko (Glatz) |
1665-1667 |
Johanna Theresia von Harrach, geb. Lamberg |
Wien |
1666 |
Johann Friedrich von Herberstein |
Gorzanów (Arnsdorf) |
1666-1667 |
Maria Eleonora von Rindsmaul, geb. Dietrichstein |
Graz |
1666-1667 |