Die Tagebücher und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598-1667). Edition und Kommentar

Projekt am Institut für Geschichte der Universität Wien, in Kooperation mit der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, gefördert durch den Fonds zur Förderung der Wissenschaften
Beschreibung der Quelle


Die Tagzettel als Informationssystem

Die deutschen Tagzettel des Kardinals entstanden 1637 zunächst aus der Notwendigkeit, Familie und Freunde von den Ereignissen der Rom-Reise des Jahres zu unterrichten. Die einzelnen Korrespondenzen wurden dabei nicht aufgegeben – Harrach schrieb weiter individuelle Briefe etwa an seine Brüder Leonhard Karl und Franz Albrecht, aber mit dem Tagzettel wurde die Information über seine Person effektiviert, weil er von vornherein für mehrfache Lektüre und Weitergabe gedacht war, und differenziert, weil die Tagzettel viel mehr an persönlichen Details enthielten als die gewöhnlichen Briefe. Man kann davon ausgehen, dass bei der Ausprägung dieses individuellen Informationsmediums mehrere Textsorten Pate standen, die sich wechselseitig modifizierten: Brief, Tagebuch und Zeitung.
Dabei verfügte Harrach hinsichtlich von Brief und Tagebuch über langjährige eigene Erfahrungen, wie die italienischen Texte und die überlieferten Bruchstücke seiner umfangreichen Korrespondenz belegen. Klar dürfte auch sein, dass er als fast Vierzigjähriger in einer Zeit expandierenden Zeitungswesens sowohl gedruckte wie geschriebene Zeitungen respektive Avvisi kannte und in großem Stil konsumierte. Über den Umfang der Zeitungslektüre einer historischen Person sind wir auch in seinem Fall kaum unterrichtet, erst Erwähnungen in den Tagzetteln selbst belegen eindeutig, dass er Zeitungen bezog und las.
Betrachtet man nun die Harrachschen Tagzettel in ihrer ausgereiften Form der vierziger bis sechziger Jahre vor dem Hintergrund der bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Tradition geschriebener Zeitungen, fallen schnell verschiedene Parallelen ins Auge. Zum ersten natürlich die allmähliche Herausbildung des Tagzettels aus dem Brief, die Entwicklung hin zur endgültigen Form der Beilage zum Brief auf einem gesonderten Blatt. Dies ist umso auffälliger, als bereits im 16. Jahrhundert für diese Nachrichtenbeilagen die Bezeichnung „pagellae“ erscheint, und als im Italienischen neben der geläufigen Bezeichnung „avvisi“ für die geschriebenen Zeitungen auch deren Benennung als „foglietti“ nachweisbar ist. Zumindest dieser formalen Parallelen war sich Ernst Adalbert von Harrach sicher bewusst, hatte sie vermutlich sogar gezielt gewählt – er selbst bezeichnete seine Tagzettel wiederholt als Zeitungen bzw. „Blättl“, ein Wort, dass er auch für gedruckte und geschriebene Zeitungen verwendete.
Zum zweiten sind aber auch in inhaltlicher Hinsicht deutliche Parallelen erkennbar: Geschriebene Zeitungen wie Tagzettel erschienen periodisch – die Tagzettel wurden im Allgemeinen wöchentlich der Korrespondenz beigelegt und orientierten sich damit wie die geschriebene Zeitung am Rhythmus der Postrouten. Sie wiesen eine gewisse Aktualität auf, die in Bezug auf die Mitteilungen zur Person signifikant war, aber auch die politischen und militärischen Meldungen betraf, die in den vierziger und fünfziger Jahren einen großen Raum in den Tagzetteln einnahmen. Harrach übermittelte hier Neuigkeiten umgehend weiter, die er selbst per Post oder Zeitung erhielt. Und auch das Merkmal der Universalität im Sinne der thematischen Vielfalt kann man sowohl geschriebenen Zeitungen wie den Harrachschen Tagzetteln zuordnen. In beiden Fällen nahmen in einem breiten Nachrichtenfeld Meldungen zu politischen und militärischen Ereignissen einen großen Raum ein, auch wenn die Tagzettel insgesamt von Informationen zu Person und sozialem Umfeld dominiert waren. Das Merkmal der Publizität, das heißt der allgemeinen Zugänglichkeit, fehlte dagegen sowohl geschrieben Zeitungen wie den Tagzetteln.
Zum dritten ist auf eine sprachliche Gemeinsamkeit zu verweisen: Wie in den frühen Zeitungen (geschriebenen wie gedruckten) war der Kardinal in seinen Tagzetteln bei Meldungen mit Nachrichtencharakter um Quellenkennzeichnung bemüht, etwa indem er auf Zeitungen und Briefe verwies, und immer wieder charakteristische Formulierungen benutzte wie „Man sagt …“, „Man spargirt …“ oder „Von NN. schreibt man …“. Teilweise fügte er auch Bemerkungen zur Glaubwürdigkeit einzelner Meldungen an oder betonte, dass eine Bestätigung derselben noch ausstehe. Vor allem hinsichtlich der Berichterstattung über militärische Ereignisse ist zudem ein Bemühen um kontinuierliche „Berichterstattung“ in den Tagzetteln erkennbar.
Ernst Adalbert von Harrach tritt uns also bei der Produktion seiner Tagzettel als Gazettier oder „Novellant“ entgegen, der selbst Erlebtes und Gesehenes mit Informationen zusammenfügte, die er seinerseits aus Zeitungen, gedruckten Relationen, Berichten über Feste und Friedensverträge usw. entnahm. Sein umfangreiches Korrespondenznetzwerk versetzte ihn zudem in die Lage, regelmäßig nicht nur auf kommerziell produzierte und vermittelte Nachrichten zuzugreifen, sondern diese durch direkte eigene Kanäle zu ergänzen und zu berichtigen (Übersicht 1). Ernst Adalbert von Harrach produzierte also seine Tagzettel als Konglomerat aus Mitteilungen zum eigenen Tagesablauf, aus selbst Gesehenem, Nachrichten aus dem sozialen Umfeld und Mitteilungen zum Teil weit entfernter Korrespondenten.
Differenzen zwischen dem italienisch geführten Diarium Harrachs und den deutschen Tagzetteln erklären sich nicht zuletzt aus der Funktion der Tagzettel als Kommunikationsmittel innerhalb der „Freundschaft“ des Kardinals, eines Kreises von Verwandten, Bekannten und vertrauten Bediensteten. Für die Erschließung dieses Personenkreises stehen als Quelle unter anderem die Korrespondenzregister zur Verfügung (Übersicht 1), die Ernst Adalbert von Harrach eigenhändig führte. Sie sind vor allem für die fünfziger und sechziger Jahre fast vollständig überliefert und stellen jeweils Listen, zum Teil mit knappen Inhaltsangaben, der eingehenden und ausgehenden Briefe dar, wobei meist vermerkt ist, ob dem Brief „foglietti“ beilagen oder beigelegt wurden. Nach diesen Registern stellt sich Harrachs Tagzettelnetz folgendermaßen dar:
Für das Jahr 1637 sind bislang drei Empfänger von Tagzetteln bekannt – seine Mutter Maria Elisabeth von Harrach, die ihren Tagzettel an alle anderen Verwandten in Wien bzw. Bruck an der Leitha weiterreichte, sowie seine Brüder Otto Friedrich und Franz Albrecht, von denen der erste in kaiserlichen Kriegsdiensten war und die Tagzettel alle zwei Wochen bekam. Auch Harrachs römischer Agent Giovanni Battista Barsotti erhielt deutsche Tagzettel. Im Jahr 1642 gab es schon mindestens sieben Empfänger von Tagzetteln (Übersicht 3), wobei die Texte weiterhin auch von einem Adressaten zu anderen weitergereicht wurden. Für die fünfziger und sechziger Jahre zeigt Übersicht 4 die Namen der Empfänger von Tagzetteln des Kardinals.
Aus dieser Liste lassen sich der Familie des Kardinals zuordnen: Maria Elisabeth von Harrach, seine Mutter, seine Schwestern Isabella Katharina von Waldstein und Maria Maximiliana von Scherffenberg sowie sein Bruder Franz Albrecht von Harrach. Außerdem folgende Nichten und Neffen: Isabella Maria von Götzen und ihr Gemahl Sigmund Friedrich, Leonhard Ulrich von Harrach, Maria Elisabeth von Kaunitz und ihr Mann Rudolf, Ferdinand Bonaventura von Harrach und seine Frau Johanna Theresia. Als langjährige nahe Bekannte der Familie bzw. Harrachs selbst kamen Christina Regina Jörger, Susanna Felicitas Löbl, Sabina Isabella von Kollonitsch und ihre Schwester Susanna Eleonora Khevenhüller und später deren Tochter Maria Franziska, vereh. Rantzau in den Adressatenkreis; mit Philipp Friedrich Breuner, dem Wiener Bischof, war Harrach durch gemeinsame Ausbildung und Verwandtschaft verbunden. Langjährige Vertraute wie der bereits erwähnte Jiří Miličovský, der Kapuzinerpater Basilius von Aire, Harrachs Kanzler Francesco Visintainer, der langjährige Hofmeister und Suffragan Giuseppe Corti und die beiden Agenten Barsotti und Orsucci in Rom gehörten ebenfalls zu den Beziehern der Tagzettel. Bei den restlichen Adressaten und Adressatinnen handelt es sich um enge, mehr oder weniger langjährige Bekannte Harrachs, die vor allem aus seinem böhmischen Umfeld stammten.
Insgesamt steht damit ein Adressatenkreis von etwa 30 Personen fest, die die Tagzettel des Kardinals teilweise über Jahrzehnte erhielten. Die Anzahl der gleichzeitig bedachten Leser der Harrachschen „Zeitung“ lag zwischen ca. fünf Personen des engsten familiären Umfeldes im Jahr 1637 und mindestens 15 im Jahr 1660, als die Tagzettel ihre größte „Auflage“ erreichten. Durch den Tod von Familienmitgliedern und Bekannten schrumpfte danach die Zahl der Adressaten und Adressatinnen wieder, aber es kamen bis in Harrachs letztes Lebensjahr auch neue Personen hinzu. Dabei ist ganz klar, dass die namentlich bekannten Empfänger und Empfängerinnen der Tagzettel nicht deren gesamte Leserschaft darstellten – auf die Gewohnheit der Weitergabe von Tagzetteln innerhalb eines bestimmten Personenkreises ist schon verwiesen worden. Wie groß die Anzahl der Zweit- und Drittleser der Tagzettel wirklich war, lässt sich heute nicht mehr feststellen; sicher ist, dass sie sich im Lauf der Jahre eher erweitert haben dürfte. Außerdem ist bekannt, dass Harrachs Tagzettel auch in fremde Informationssysteme einbezogen wurden.
Die in deutscher Sprache geschriebenen Tagzettel Ernst Adalberts von Harrach stellen also ein Selbstzeugnis dar, das eindeutig in einer kommunikativen Absicht entstand, die über die Information folgender Generationen deutlich hinausging. Der Kardinal entwickelte mit den Tagzetteln ein individuelles Zeitungswesen, das persönliche, politische, kulturelle etc. Informationen und Stellungnahmen vereinte. Dieses über Jahrzehnte bestehende Informationssystem war offenbar kein Einzelfall, aber seine umfassende Erhaltung stellt eine Ausnahme dar.

 

Übersicht 1: Informanten des Kardinals im Jahr 1651
Absender
Ort
Charakter
Cesare Vezzi
Wien bzw. Hof
gedruckte Zeitungen
Päpstlicher Nuntius
Wien bzw. Hof
handschriftliche Tagzettel
Philipp Friedrich und Ferdinand Breuner
Wien
verschiedene Zeitungen und Fer andere Texte
Maximiliana von Scherffenberg
Wien bzw. Hof
Texte über Feste u.ä.
Franz Albrecht von Harrach
Wien
Texte über Feste u.ä.
Adrian von Enckefurt
Wien
verschiedene Zeitungen und andere Texte
Giovanni Battista Barsotti
Rom
handschriftliche Zeitungen und andere Texte
Abt Boffi
Rom
handschriftliche Zeitungen und andere Texte
Basilius von Aire
Prag
verschiedene Zeitungen und andere Texte
Juan Caramuel y Lobkowitz
Prag
verschiedene Zeitungen und andere Texte
Melchiore Gorino
Mailand
Zeitungen und französische Tagzettel
Giovanni Battista Laghi
Bologna
Zeitungen
„gazettanti“
Venedig
Zeitungen
Ferdinand Maximilian von Baden
Paris
französische Zeitungen
Sigmund Friedrich von Götz
Polen
unregelmäßig Zeitungen
Allegretto Allegretti
Madrid
unregelmäßig Zeitungen
Erzbischof von Smyrna
Istanbul
unregelmäßig Zeitungen

 

Übersicht 2: Korrespondenz-Regesten

Für folgende Jahrgänge sind Listen erhalten: Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, Familienarchiv Harrach, HS 3 (1637); HS 268 (1640-1644); HS 298 (1646-1647); HS 329 (1650); HS 330 (1651); HS 331 (1652); HS 525 (1653); HS 332 (1654); HS 333 (1655); HS 178 (1655); HS 334 (1655-1656); HS 335 (1657); HS 279 (1656, 1659-1661); HS 336 (1660); HS 499 (1662); HS 276 (1663); HS 280 (1665); HS 337 (1666-1667).

 

Übersicht 3: Empfänger von Tagzetteln 1642

Maria Elisabeth von Harrach, geb. Schrattenbach (den auch Maximiliana von Scherffenberg, geb. Harrach, erhielt)
Franz Albrecht von Harrach
Leonard Karl von Harrach
Susanna Eleonora von Khevenhüller, geb. Kollonitsch
Christina Regina von Jörger
Anna Susanna Slavata, geb. Rappach (wenn Harrach nicht in Prag war)
Giovanni Battista Barsotti

 

Übersicht 4: Adressaten von Tagzetteln 1651 bis 1667

Name
Aufenthaltsort
Jahre
Maria Elisabeth von Harrach, geb. Schrattenbach
Wien bzw. Rohrau
1651-1652
Isabella Katharina von Waldstein, geb. Harrach
Wien
1653
Maria Maximiliana von Scherffenberg, geb. Harrach
Wien bzw. kaiserl. Hof
1651-1660
Franz Albrecht von Harrach
Wien bzw. kaiserl. Hof
1651-1666
Christina Regina Jörger
Sankt Marein
1651-1661
Sigmund Friedrich von Götz
Bor (Haid), Armee
1651-1661
Isabella Maria von Götzen, geb. Trčka
Bor (Haid)
1662
Jiří Miličovský z Braunberka
Červená Řečice (Retschitz)
1651-1661
Basilius von Aire
Prag
1651-1653
Francesco Tommaso Visintainer
Prag
1651-1653
Giovanni Battista Barsotti
Rom
1651-1653
Susanna Felicitas Löbl
Wien?
1653
Walter Leslie
Varaždin bzw. Wien
1653-1667
Leonhard Ulrich von Harrach
Wien bzw. Bruck a.d.L.
1656-1667
Maria Elisabeth von Kaunitz, geb. Waldstein
Zahrádky (Neuschloss)
1656-1662
Sabina Isabella von Kollonitsch
Kirchberg a. W.
1656-1667
Susanna Eleonora von Khevenhüller, geb. Kollonitsch
Kirchberg a. W.
1656-1665
Giuseppe Corti
Prag
1656-1657
Michele Orsucci
Rom
1656-1661
Giovanni Carlo de’ Medici
Florenz
1656-1661
Adam Matthias von Trauttmansdorff
Horšovský Týn (Theinitz)
1657
Ferdinand Bonaventura von Harrach
Wien bzw. kaiserl. Hof
1659-1667
Rudolf von Kaunitz
Zahrádky (Neuschloss)
1659
Maria Franziska von Rantzau, geb. Khevenhüller
Kirchberg a. W.
1659-1667
Ferdinand Maximilian von Baden
 Paris
1659-1667
Philipp Friedrich Breuner
Wien
1659
Leopold Wilhelm von Baden-Baden
 Prag, Baden, Armee
1660
Susanna Polyxena von Martinitz, geb. Dietrichstein
Prag
1660-1665
Scipione Gonzaga di Bozzolo e Sabbioneta
Mantua
1660-1662
Maria Margaretha Schlick, geb. Ungnad
Prag
1661
Eva Christina von Kuefstein
Greillenstein
1662
Maria Katharina von Martinitz
Prag
1662
Maria Elisabeth von Götzen, geb. Hodic
Kłodzko (Glatz)
1665-1667
Johanna Theresia von Harrach, geb. Lamberg
Wien
1666
Johann Friedrich von Herberstein
Gorzanów (Arnsdorf)
1666-1667
Maria Eleonora von Rindsmaul, geb. Dietrichstein
Graz
1666-1667

nach oben