Die Tagebücher und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598-1667). Edition und Kommentar

Projekt am Institut für Geschichte der Universität Wien, in Kooperation mit der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, gefördert durch den Fonds zur Förderung der Wissenschaften
Beschreibung der Quelle


Die Beschreibung der Quelle

In österreichischen Archiven sind zahlreiche Selbstzeugnisse aus der Frühen Neuzeit überliefert, von denen einige bereits publiziert und so für Forschungen zahlreicher historisch arbeitender Wissenschaften zugänglich gemacht wurden. Ein von Harald Tersch zusammengestelltes und 1998 publiziertes Handbuch dokumentiert den aktuellen Wissensstand hinsichtlich bereits gedruckter wie noch unedierter Selbstzeugnisse für die Zeit bis 1650. Vor allem in adligen Familienarchiven schlummern jedoch noch weitere Materialien, vor allem zahlreiche Briefe, die sich prinzipiell nutzbar machen ließen. Eine Quelle von europäischer Bedeutung, in ihrem Stellenwert den bekannten Briefen der Liselotte von der Pfalz oder den Memoiren des Duc de Saint-Simon vergleichbar, stellen jedoch die Tagebücher bzw. Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach dar.
Die sog. Harrach-Tagebücher sind der Forschung bereits lange bekannt und wurden schon am Ende des 19. Jahrhunderts für Studien zum Kaiserhof und zum Prager Erzbistum vereinzelt herangezogen. In den letzten Jahren sind sie vor allem durch Arbeiten zum Wiener Hof wieder mehr ins Blickfeld gerückt; allerdings steht ihre umfassende Auswertung noch aus (siehe Bibliographie). Erhalten sind im Familienarchiv Harrach im Wiener Allgemeinen Verwaltungsarchiv Aufzeichnungen zu den Jahren 1630 bis 1667, von denen 26 Jahrgänge in italienischer und 22 Jahrgänge in deutscher Sprache geführt wurden. Für die Jahre 1637 bis 1640 sowie von Mitte 1644 bis 1648 liegen jeweils sowohl eine italienische wie eine deutsche Version vor (siehe Liste der Tagzettel).
Für die Texte, die Harrach selbst am Anfang „diario“ und später „tagzettel“ nennt, ist dabei eine formale wie inhaltliche Entwicklung erkennbar. Bei den frühesten italienischen Niederschriften handelt es sich noch um ein knappes Tagebuch, das in seinem Inhalt und Aufbau anderen Tagebüchern der Zeit ähnelt. Kurze Schilderungen alltäglicher Erlebnisse des Kardinals werden mit Mitteilungen über politische Ereignisse kombiniert. Die Romreise Harrachs im Jahr 1637 stellt dann eine Zäsur dar – nach längerem Experimentieren mit der Form der Niederschrift wechselte der Kardinal nun von Tagebuchnotizen zu sog. Tagzetteln über, vermutlich, weil ein größerer, heterogener Kreis von Interessenten mit Nachrichten zu versorgen war. Seit Ende der dreißiger Jahre benutzte er selbst die Bezeichnung „diario“ oder „Tagebuch“ nie mehr für seine Texte.
Die Tagzettel wurden als Ergänzung zur üblichen Korrespondenz den Briefen beigelegt und entsprechen damit in Form und Übermittlungsweg den handgeschriebenen Zeitungen, die im ausgehenden 15. Jahrhundert in Humanistenkreisen und diplomatischer Korrespondenz aufkamen und seit dem 16. Jahrhundert als wichtige Informationsquelle sowohl in politischen wie wirtschaftlichen Kontexten dienten. Am bekanntesten ist unter diesen heute die Serie der Fugger-Zeitungen, aber ähnliche Sammlungen und Serien existieren in vielen europäischen Archiven. Schon die Zeitungswissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts hat sie als Vorläufer der gedruckten Zeitung eingeordnet. Die Tagzettel des Kardinals Harrach nun waren solche geschriebenen Zeitungen, mit denen er Informationen innerhalb eines weiten Familien- und Bekanntenkreises zirkulieren ließ. In diesem Kreis und darüber hinaus wurden die Tagzettel gesammelt, ausgetauscht und diskutiert.
Das Harrach-Tagebuch ist damit keine autobiographisch-selbstreflexive Darstellung im Sinne der älteren Literaturwissenschaft, wie die Bezeichnung als „Tagebuch“ vielleicht nahe legen könnte, sondern eine Serie von meist wöchentlich übersandten Relationen über das Leben des Kardinals, die primär für einen Kreis von Verwandten und Freunden bestimmt war. Was er schrieb, stammte dabei sowohl aus seiner persönlichen Erfahrung wie aus der Korrespondenz mit anderen, sowohl von Familienmitgliedern wie Bekannten sowie aus eingehenden geschriebenen Zeitungen. So kam er selbst über ein ausgedehntes Kommunikationsnetz schnell in den Besitz von Informationen und speiste diese wiederum in andere kommunikative Zusammenhänge ein. Die Informations- und Textstruktur der Tagzettel liegt damit auf einer Ebene zwischen Brief und Tagebucheintrag; es handelt sich bei ihnen weder um eine Autobiographie noch um bloße Ereignisbuchhaltung im Sinne eines Familienbuches oder einer Chronik.
Wenn man die parallel überlieferten deutschen und italienischen Jahrgänge vergleicht, zeigt sich, dass in einigen Fällen der Inhalt der beiden Reihen praktisch derselbe ist. In einem Großteil der Tagzettel sind die Mitteilungen für den gleichen Tag aber nicht identisch. Manchmal dokumentieren sich hierin Überarbeitungen des einen Textes für die andere Sprache, manchmal stellten die Kopisten im Dienst des Kardinals aber offensichtlich verschiedene Ausfertigungen her, die sich inhaltlich an den Interessen des Adressaten oder der Adressatin orientierten. Keine der unterschiedlichen Versionen kann als vollständige Variante bezeichnet werden, es handelt sich vielmehr um typologische Unterschiede bezüglich der Informationsgewichtung. Während die italienischen Tagzettel stärker auf seine engeren Vertrauten in Rom und am Hof bezogen gewesen zu sein scheinen, etwa den Harrachschen Agenten Giovanni Battista Barsotti, spricht Harrach in den deutschen Tagzetteln zum Teil von sich in der dritten Person, so dass man annehmen kann, dass neben der Familie außenstehende Leser als Adressaten mitgedacht werden. Die Zweisprachigkeit zeigt auch die Position des Kardinals als Mittler (nicht nur von Informationen) zwischen zwei Kulturräumen.
Die Familie des Kardinals spielte insofern bei der Entstehung der Tagzettel eine erhebliche Rolle, weil die Brüder und Schwestern Ernst Adalberts ihr Leben in sehr unterschiedlichen Teilen der habsburgischen Erblande verbrachten: Sein Bruder Leonhard VII. (1594-1645) hielt sich meist in Wien bzw. auf dem Familiengut Bruck a. d. Leitha auf, fungierte jedoch gleichzeitig als Obersthofmeister Erzherzog Leopold Wilhelms (1614-1662), den er auf Reisen und Kriegszügen begleitete. Otto Friedrich von Harrach (1610-1639) diente als kaiserlicher Offizier, während Franz Albrecht (1614-1666) als kaiserlicher Kämmerer, Oberstjägermeister und obderennsischer Herrenstandsverordneter zwischen Wien und Linz pendelte. Von den Schwestern war Katharina (1599-1640) mit dem kaiserlichen Oberststallmeister Maximilian von Waldstein (gest. 1655) verheiratet und hielt sich meist in Prag oder Wien auf; Isabella (1601-1655), die Fürstin von Friedland, lebte in Prag, Wien oder Jičín, und Maximiliana (1608-1660), zuerst verehelichte Gräfin Trčka, dann Freiin von Scherffenberg, lebte in Prag, Opočno, Linz oder Wien. Zwischen den Geschwistern bestanden zeitlebens enge Beziehungen, die aufgrund der langen räumlichen Trennungen vorrangig durch eine intensive Korrespondenz aufrecht erhalten wurden, deren fester Bestandteil beigelegte Tagzettel waren.
Die Tagzettel dokumentieren nicht nur den Lebensweg und die Lebensräume eines Adligen, sondern sie machen ein System des Informationsaustausches innerhalb adliger Familien- und Freundschaftskreise sichtbar, das sich im Bezugsfeld Wien – Prag – Rom im 17. Jahrhundert etabliert hatte. Der Kardinal stellte eine Schnittstelle, einen Vermittler innerhalb dieses Bezugsfeldes dar. Somit sind seine Tagzettel nicht nur Dokumente, die Handlungsfelder einer Person in ihrem Amt (als Erzbischof von Prag und Kardinal), im familiären Kontext (als Beistand von Neffen, Schwestern oder engen Freunden) oder im Rahmen der adligen Gesellschaft der habsburgischen Erblande erkennbar und beschreibbar machen. In den Niederschriften Kardinal Ernst Adalberts von Harrach verbinden sich europäische Politik und Entwicklungen in den habsburgischen Erblanden, kulturelle Einflüsse aus Italien mit solchen aus Mitteleuropa ebenso wie Gegenreformation und Pietas Austriaca. Aus dieser Mittlerposition, aus der kommunikativen Vernetzung des Kardinals, seinem individuellen Mitteilungsbedürfnis und der dafür gewählten Form ist eine für den deutschen Sprachraum einzigartige Quelle entstanden.
Kennzeichnend für die Harrach-Tagebücher ist außerdem ihre inhaltliche Vieldimensionalität, die sie zu einer Quelle für zahlreiche Forschungsfelder und historisch arbeitende Fächer macht. Enthalten sind Informationen über politische Entwicklungen ebenso wie über den Verlauf der Kriegshandlungen in Europa, in Böhmen wie im Alten Reich bis 1648, als der Kardinal bspw. die Belagerung und Eroberung Prags durch die Schweden miterlebte und beschrieb. In sehr vielfältiger Weise tauchen Informationen und Sichtweisen eines Beteiligten zur Durchsetzung der Gegenreformation in Böhmen, zu politischen Entwicklungen im Umfeld der römischen Kurie sowie zur Personalpolitik im geistlichen Bereich auf, ergänzt durch Beschreibungen barocker Frömmigkeitsformen. Die Konflikte des Kardinals mit den Prager Jesuiten sowie um die Vereinigung der Prager Universitäten nehmen besonders im Jahr 1638 breiten Raum ein; ausführlich berichten die Tagzettel auch über Konklaven. Hinweise auf Geisterglauben und Magie lassen eine spezielle Facette frühneuzeitlicher Frömmigkeit sichtbar werden.
Ein wichtiges Themenfeld stellten auch der kaiserliche Hof und der Adel der habsburgischen Erblande dar, deren alltägliches Leben immer dann besonders gut erkennbar wird, wenn der Kardinal selbst in Wien weilte, was regelmäßig der Fall war. Aber auch das Wissen um Ereignisse, Ämterbesetzungen und Entwicklungen im Umfeld des Kaisers, das seinen Weg nach Prag fand, wird recht klar erschließbar. Außerdem enthalten die Tagzettel längere Beschreibungen zeremonieller Inszenierungen bei Hof, wie etwa der Aufnahme Erzherzog Leopold Wilhelms in den Deutschen Orden, und natürlich der verschiedenen Krönungen, an denen der Erzbischof zum Teil aktiv beteiligt war. Das Interesse Harrachs an Musik und Theater, das sich in zahlreichen Beschreibungen von Aufführungen niederschlug, machen die Tagebücher auch zu einer innovativen Quelle für Musik- und Theaterwissenschaften. Gleiches gilt für die Kunstgeschichte durch Notizen zu Bauten und Kunstkäufen.

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